
Psychotherapie bei Tinnitus: Mit Ohrgeräuschen leben lernen
Tritt ein akuter Tinnitus auf, hängt dies häufig mit einem Lebensereignis zusammen, das den Patienten seelisch belastet. Tinnitus wirft in der Forschung noch immer viele Fragen auf, eines aber ist unumstritten: Tinnitus hat als Störung der Hörverarbeitung auch eine seelische Komponente. Deshalb wird empfohlen, bereits in akuten und subakuten Stadien, das heißt innerhalb der ersten drei bis sechs Monate nach Auftreten des Tinnitus, mit einer psychotherapeutischen Behandlung zu beginnen. Psychologische Unterstützung hilft dabei, die Wahrnehmung zu schulen und mit den Ohrgeräuschen leben zu lernen. Sie kann ein wichtiger Baustein innerhalb der Tinnitusbehandlung sein.
Psychotherapie kann dazu beitragen einem chronischen Tinnitus vorbeugen. Da das erste Auftreten des Ohrensausens häufig ursächlich mit einem belastenden Lebensereignis verbunden ist, kann bereits das ärztliche Erstgespräch, die bio-psycho-soziale Anamnese, dazu dienen, dem Betroffenen im Rahmen der Behandlung eine Gesprächstherapie anzubieten. Diese kann sich über 5 bis 25 Sitzungen erstrecken und als Einzel- oder Gruppentherapie durchgeführt werden. HNO-Arzt, Psychotherapeut und andere mitwirkende Therapeuten sollten dabei ein Behandlungs-Team bilden.
Längerfristige Psychotherapie benötigen insbesondere diejenigen Betroffenen, bei denen der Leidensdruck durch den Tinnitus derart gewachsen ist, dass sie Folgekrankheiten entwickelt haben. Dazu können Schlafstörungen, Ängste und Depressionen gehören. Auch wer an Schwerhörigkeit oder Hörverlust, Hörsturz oder Morbus Ménière leidet, kann von einer begleitenden Psychotherapie profitieren und lernen, seine Erkrankung zu akzeptieren.
Hauptrichtungen der Psychotherapie
Die Verhaltenstherapie beruht auf einer Verarbeitung der Probleme mithilfe des Verstandes. Die Patienten lernen, mit dem Tinnitus zu leben und das Ohrgeräusch besser zu bewältigen. Negative Gedanken und Denkfehler wie „mein Tinnitus zerstört mein Gehör und mein Leben“ werden aufgearbeitet und umgedeutet, Bewältigungsstrategien aufgezeigt. Der Tinnitus bleibt davon unbeeinflusst, verliert aber im Therapieverlauf an Bedeutung. Die ängstliche Fixierung auf das Ohrgeräusch, das in eine falsche Hörverarbeitung mündet, kann durch Verhaltenstherapie aufgelöst werden. Auch zur Stressbewältigung eignet sich die Verhaltenstherapie (VT) gut.
- Verhaltenstherapie
- Tiefenpsychologie/Psychosomatik
Die Psychosomatik erforscht die Zusammenhänge zwischen Psyche und Körper (griech. Soma). Bei manchen Menschen machen sich ungelöste seelische Konflikte als körperliche Beschwerden bemerkbar, zum Beispiel als Ohrgeräusch. In diesem Fall eignet sich eine tiefenpsychologische Behandlung. Unbewusste Konflikte oder Überforderung in der Familie, Partnerschaft oder am Arbeitsplatz, auch ungelöste Probleme und Neurosen aus der Vergangenheit des Patienten werden im Gespräch herausgearbeitet.
Anfangs wird der Tinnitus-Betroffene die „Schuld“ bei den unfähigen Helfern, den Angehörigen oder dem Psychotherapeuten suchen, der den Tinnitus einfach nicht behandeln kann. Nach und nach wird er sich im Idealfall davon lösen, zu reflektieren beginnen und sich seinen krankmachenden Gefühlen stellen. So kann aus dem Tinnitus-Leidenden ein selbstbestimmter Mensch werden, der das Klingeln im Ohr überwinden oder zumindest als Teil seines Lebens akzeptieren kann.